Tierethik

 

FAZ, 30. September 2008 ,

 

Lasst die Tiere in Würde aussterben
Von Jürg Altwegg, Genf

 

Wer zu Hause ein Meerschweinchen hat, sollte es jetzt in menschlicher Würde sterben lassen. Oder ihm einen Artgenossen zur Seite stellen. Ansonsten macht er sich strafbar. So steht es im neuen Tierschutzgesetz, das nach jahrelangen Diskussionen und Debatten von den Schweizern per Volksabstimmung erlassen wurde und am 1. September dieses Jahres in Kraft getreten ist. Es will verhindern, dass das einsame Meerschweinchen ein trauriges Leben im Käfig führen muss.

Das gilt auch für andere beliebte Kreaturen, die bei den Menschen ihr Dasein fristen. Für die Maus in der Tretmühle und die intelligenten Ratten der Halbwüchsigen. Ob Kanarienvogel, Wellensittich und Papagei: Sie müssen fortan in Gruppen von mindestens zwei Exemplaren gehalten werden. „In der freien Wildbahn leben diese Tiere in Gruppen beziehungsweise Sippen, die gesetzliche Verpflichtung ist ein absolutes Minimum“, sagt Jean-Michel Hatt, Professor für Zoo-, Heim- und Wildtiermedizin.

Wer sich einen Hund zulegen will, ist verpflichtet, einen Kurs zu besuchen. Dreimal Theorie und ein Freilufttraining von mindestens fünf Stunden Dauer sind vorgeschrieben. Es gibt in der Schweiz Hunderttausende von bellenden Vierbeinern. Das Gesetz gilt nicht nur für gefährliche Kampfhunde. Auch Pudelherrchen müssen auf die Schulbank, noch aber gibt es praktisch keine Möglichkeiten, das Obligatorium überhaupt zu absolvieren. Die Schonfrist läuft 2010 ab.

Der moderne Tierschutz ist ein zentrales Anliegen geworden.

Weit über hundert Seiten umfasst die Verordnung. In 226 Artikeln wird festgehalten, wie Hunderten von Tierarten – einheimischen und importierten – ein artgerechtes Leben zu ermöglichen sei. Für die Kühe wird die Stallfläche definiert. Das Gehege der Hühner muss minimale Normen erfüllen – auch bezüglich der Länge der Sitzstangen. Vögel brauchen gefederte Sitzmöglichkeiten. Vom Licht im Stall und von den Erfrischungs- wie Beschäftigungsmöglichkeiten ist die Rede. Das Einfrieren der Goldfische im Eisschrank und das Entsorgen in der Toilette gelten jetzt ausdrücklich als kriminelle Handlungen.

In vielen Fällen bewilligungspflichtig wird das Halten exotischer Tiere. Die Freunde von Reptilien müssen ebenfalls Kurse belegen. Lebende Tiere dürfen nur noch dann zur Ernährung – zum Beispiel der Schlangen – benutzt werden, wenn es keine anderen Möglichkeiten gibt. Noch sind Hausdurchsuchungen durch die Polizei ausgeblieben, man setzt auf Aufklärung. Zumindest auf dem Papier sind die Behörden durchaus verpflichtet, zum Beispiel Hinweisen auf verwaiste Tiere nachzugehen. Sie geben sich gelassen: „Unsere Verordnungen sind sehr einfach gehalten und zielen einzig darauf ab, Tiere möglichst artgerecht zu halten.“ Die eidgenössische Außenpolitik setzt auf die Menschenrechte. Innen- und gesellschaftspolitisch ist der moderne Tierschutz zu einem zentralen Anliegen mit breiter Unterstützung in der Bevölkerung geworden.

Ziemlich unvermittelt hatte die Züricher Tierversuchskommission an der ETH und an der Universität angelaufene wissenschaftliche Programme mit Menschenaffen gestoppt. Monatelang dauerten die Abwägungen, mit dem Resultat, dass die Tierversuche nicht wiederaufgenommen werden durften: Die Würde der Affen werde verletzt, die aus den Experimenten zu erwartenden Kenntnisse würden das ihnen zugefügte Leiden nicht rechtfertigen. Die Hochschulen sind inzwischen an das Bundesgericht gelangt. Sie befürchten ein generelles Verbot für Affenversuche und sehen die Grundlagenforschung in Gefahr. Auch wenn die oberste Instanz in ihrem Sinne entscheiden sollte, droht den Affenversuchen das Aus: Längst läuft eine Unterschriftensammlung, die beste Chancen hat, das Verbot über eine Volksabstimmung im Gesetz zu verankern.

Eine vegane Welt wäre der Lösung aller Umweltprobleme förderlich.

„In den Vereinigten Staaten und in Australien, in England und Italien macht man sich nur noch lustig über die Schweiz“, entsetzt sich der Biologe Klaus Ammann. Er war Direktor des Botanischen Gartens in Bern. Inzwischen hat er das Land, in dem er eine rapide um sich greifende Wissenschaftsfeindlichkeit ausmacht, verlassen und arbeitet in Delft. Den Spott der Welt der Wissenschaft hat sich die Schweiz mit der „Würde der Pflanzen“ zugezogen. Sie wurde von der „Eidgenössischen Ethikkommission für die Biotechnologie im Außerhumanbereich“ definiert: „Die Würde der Kreatur gilt auch für Pflanzen. Ihre willkürliche Schädigung ist moralisch unzulässig.“ Bernard Baertschi, Professor in Genf, ist Mitglied dieser Ethikkommission: „Das neue Tierschutzgesetz basiert auf der Einsicht, dass Tiere leidensfähige Wesen sind. Man darf ihnen nicht leichtfertig Schmerzen zufügen. Man muss abwägen. Was wiegt mehr: das Leiden, die Würde des Tieres oder unser untergeordnetes Bedürfnis nach einem neuen kosmetischen Produkt?“ Was die Forscher als Wissenschaftsfeindlichkeit beklagen, hält er für eine zivilisatorische Veränderung: „Die ersten Debatten um das Wesen der Tiere gehen auf die Antike zurück. Kant hielt es am Ende des achtzehnten Jahrhunderts für unmoralisch, ein Tier zu quälen. Nicht aus Liebe zu ihm – er hielt dies für unvereinbar mit der Würde des Menschen. Darwin eröffnete eine entscheidende Wende: Der Mensch steht nicht außerhalb der Natur, er ist Teil der Evolution. Heute wissen wir, wie viel wir genetisch mit den Affen gemein haben. Unsere Wohlstandsgesellschaft erlaubt es uns, ohne große Verzichte das Schicksal der Tiere zu verbessern. Früher befassten sich nur Philosophen mit ihm – heute geht es alle an.“
 

Der umstrittene Philosoph Peter Singer will die Grenzen zwischen Mensch und Tier gänzlich aufheben. Die Emanzipation der Tiere müsse jener der Schwarzen, der Frauen und der Homosexuellen folgen. Singer war kürzlich in Bern, wo er das neue Tierschutzgesetz als beispielgebend für die ganze Welt lobte und wo Klaus Petrus als Philosophieprofessor lehrt. Petrus, Sohn eines Kleinbauern, ist landesweit bekannt. Mit dem Thema Tier befasst er sich seit dem Ausbruch des Rinderwahns. Die Massenschlachtungen und Kadaververbrennungen erschütterten ihn. Er gelangte zu der Einsicht, dass alle Zuchtprogramme abgebrochen werden müssten. Es darf weder Haus- noch Nutztiere geben. Lasst sie in Würde aussterben, rät der Philosoph den Zeitgenossen, und verzichtet dann auf jede Ausbeutung. Viele Zivilisationskrankheiten hätten mit dem Verzehr von Fleisch zu tun. Eine vegane Welt (ohne tierische Produkte) wäre der Lösung aller Umweltprobleme äußerst förderlich. Der Energieverbrauch würde gedrosselt, das Klima geschont, eine gerechtere Verteilung der Nahrungsmittel wäre die Folge. Die „NZZ am Sonntag“ widmete Klaus Petrus ein sympathisierendes Porträt und bescheinigte ihm „viel Ernsthaftigkeit“.

Eine Ausbildung in Sachen Tierschutz und Ethik

Selbst für die Animal Liberation Front (ALF) hat der Professor einiges übrig. Sie wird vom Verfassungsschutz als terroristische Vereinigung observiert. Sie will Tiere mit Gewalt aus den Versuchslabors befreien. Die ALF ist die radikalste einer Reihe von Organisationen, die in den vergangenen Jahren gegründet wurden. Der ursprünglich als Landschaftsschützer tätige Franz Weber war mit seinen „United Animal Nations“ ein Pionier. Deren internationaler „Tiergerichtshof“ führt regelmäßig Schauprozesse durch, vor ein paar Wochen in Genf war der Stierkampf auf der Anklagebank. Aber auch viele konkrete Projekte wurden lanciert. Ein Altlinker hat mit Fischern in Senegal das Unternehmen „Fair Fish“ aufgebaut. Für Greenpeace ist der Kampf gegen das Fleisch ebenfalls zur Priorität geworden: „Wir essen uns zu Tode.“

Die Boulevardzeitung „Le Matin“ wie das Nachrichtenmagazin „L’Hebdo“ haben das „Ende des Schnitzels“ angekündigt. Auf der Schlachtbank werden die Schweine von Mozart in den Tod begleitet und vor dem Schnitt in die Gurgel in kleinen Gruppen sanft betäubt. Auch Schlachter müssen jetzt eine Ausbildung in Sachen Tierschutz und Ethik absolvieren. Das gilt ebenso für die Fahrer der Tiertransporte. Die Fleischindustrie begrüßt die verschärften Bestimmungen und unterstützt die Reportagen über das (verbesserte) Leben der Schweine als PR-Aktionen zur Rettung der Branche.


Kürzlich berichtete das Fernsehen über die Lebensbedingungen der aus Italien und Frankreich importierten Kaninchen. In früheren Zeiten legten sich die Wellen der nationalen Empörung nach ein paar Tagen. Diesmal haben die Großverteiler das Kaninchenfleisch noch schneller aus dem Sortiment genommen.