Tierethik

 
 

Ein Plädoyer für Tierrechte
 

Wir ignorieren das Offensichtliche

von Hilal Sezgin 24.8.2016, 05:30 Uhr aus Neue Zürcher Zeitung

Was verlieren wir, wenn wir Tieren Rechte zugestehen?

Nur einige Zutaten beim Kochen.

 
 

Es fällt schwer, für Tierrechte zu werben in diesen Zeiten, in denen bereits die Menschenrechte so fragil scheinen wie lange nicht mehr. Dreitausend Menschen sind in dem ersten Halbjahr 2016 im Mittelmeer ertrunken; ihre Menschenrechte auf Leben, Zuhause, Sicherheit blieben leider ungeschützt. Sogar der Konsens des Gewaltverzichts, der für die europäische Moderne gleichsam zum identitätsstiftenden Merkmal geworden ist, scheint vielerorts gebrochen. In Grossbritannien wird auf offener Strasse eine Politikerin ermordet, Terroranschläge erschüttern Frankreich, die Türkei und auch Deutschland, wo zudem Flüchtlingsheime brennen. Es ist, als begänne eine Lust am Quälen und Töten ihre Fesseln abzustreifen, als bräche der dünne Firnis der Zivilisation auf.

Wieso nun sollen wir Tiere schonen, wenn wir nicht einmal den Mitmenschen unangetastet lassen? Müsste man nicht hoffen, die Menschheit werde zunächst die Rechte anderer Menschen respektieren, bevor man sich dem Wohl und Wehe der befellten, befiederten und geschuppten Mitbewohner unseres Planeten widmen kann?

Keine To-do-Liste

Solche Fragen sind beliebt bei klassischen Humanisten, die Bedenken äussern: Wenn man den Tieren Aufmerksamkeit schenke, fehle sie für den Menschen. Allerdings essen die meisten dieser Bedenkenträger Fleisch und nutzniessen bequemerweise in vielen anderen Lebensbereichen, ob bewusst oder unbewusst, vorsätzlich oder nicht, von unserer Herrschaft über die Tierwelt. Doch auch gestandene Tierrechtler und Veganer haben dieser Tage bisweilen Zweifel, welche Ungerechtigkeit sie denn am besten zuerst angehen sollten.

Aus Sicht der politischen Philosophie stellt sich hier ein interessantes Problem. Bereits in anderen Kontexten und Situationen wurde darüber debattiert, welche Ungerechtigkeit mit welcher anderen ursächlich zusammenhänge. Manche der alten Fragen muten aus heutiger Sicht unendlich naiv an, zum Beispiel jene marxistische: Muss zuerst «der Arbeiter» befreit werden oder «die Frau»? Eine klare Präferenzliste lässt sich ja nur mit sehr gefestigtem ideologischem Weltbild postulieren. Stamme eine solche Weltanschauung nun von Marx oder von Hegel – sie wirkt selbst wie ein Stück unaufgeklärter Metaphysik. Denn es gibt nun einmal keine kosmisch definierte To-do-Liste der Weltverbesserung. Über den Wolken oder hinter den Kulissen sitzt keiner, der einen Plan für den Fortschritt entworfen hätte, den wir nur zu erraten und zu befolgen hätten.

Es existiert auch keine allgemeine Formel, mit der sich ausrechnen liesse, was «am dringendsten» getan werden müsse. Niemand würde einer westeuropäischen Gewerkschafterin vorhalten, es sei falsch, dafür zu streiten, dass Männer und Frauen für gleiche Arbeit gleich bezahlt werden – obwohl in anderen Teilen der Welt weder Männer noch Frauen halbwegs angemessenen Lohn erhalten. Genauso wenig lässt sich sagen, Gerechtigkeit für uns (über sieben Milliarden) Menschen sei unbedingt wichtiger und dringender als Gerechtigkeit für die fünfundsechzig Milliarden jährlich geschlachteten Tiere. Wir würden Dringlichkeit, Aufwand, Leid, Kosten, Effektivität gern irgendwie verrechnen – doch so funktioniert die Welt eben nicht. Für Not und Hilfe gibt es keine einheitliche Währung, schon gar nicht in der Ethik.

Was tut die Philosophie, wenn sich ihre eigenen Werkzeuge, namentlich Präzision und Konsistenz, als nicht hinlänglich hilfreich erweisen? Sie sucht Zuflucht in der Pädagogik. Immanuel Kant vermochte sich bekanntlich nicht dazu durchzuringen, das Tier – wie den Menschen – als «Zweck an sich», als Wesen, das um seiner selbst willen existiert, zu klassifizieren, weil er es dafür im Rahmen seiner Philosophie als vernunftbegabte Person hätte anerkennen müssen. Genauso wenig aber liess sich Tierquälerei als völlig irrelevant abtun. Und so argumentierte Kant quasi pädagogisch, es tue dem menschlichen Charakter selbst nicht gut, wenn wir uns ans Tiere-Quälen gewöhnten. (Eine These, die empirisch nicht ganz so leicht belegbar ist, wie sie intuitiv einleuchtet; doch neuere Untersuchungen scheinen sie eher zu bestätigen.)

Aber Hand aufs Herz: Dies ist kaum der einzige Grund, warum es falsch ist, zum Beispiel einen Hund zu treten. Die meisten Menschen würden zusammenzucken, wenn in ihrer Gegenwart jemand ohne Not einen Hund verletzte; und ihre Begründung, warum man dies nicht tun solle, ruht auf derselben ethischen Basis wie der Grund für das Gebot, Menschen nicht zu drangsalieren oder zu verletzen. Ebendarum sagt man zu einem Kind: «Tu das nicht, das tut dem Hund weh!» – oder: «Die Katze mag es nicht, wenn du sie am Schwanz ziehst.» Es ist dies freilich ein ethisches Argument, das sofort vergessen wird, wenn es um Fisch, Pute oder Schwein geht. Denen tut es aber natürlich auch weh – so, wie wir sie behandeln, und sie schätzen es auch nicht, eingepfercht zu sein, ihrer Freiheit beraubt, ihres Nachwuchses, der Bewegung wie der ungestörten Ruhe; transportiert, markiert, malträtiert und schliesslich gewaltsam getötet zu werden. Vielerlei Hilfskonstruktionen, begriffliche Konzepte und – man darf ruhig sagen: – Ideologien helfen uns, das Offensichtliche zu ignorieren. Also das Leid des Schweins, das mit der eigenen Gülle eingesperrt ist, auszublenden, wiewohl wir dieselbe Behandlung einer Katze als Tierquälerei anzeigen würden.

«Haustier» und «Nutztier»?

Die Katze allerdings ist ein von uns persönlich geliebtes Tier, wir nennen es «Haustier». Das Tier im landwirtschaftlichen Stall hingegen «ist nur ein Nutztier», es «wurde dazu gezüchtet» . . . Doch wer bestimmt das? Geht diese Unterscheidung nicht auf den Sklavenhalter zurück, der seine lebenden Besitztümer selbstherrlich einteilt in einige, die zum Streicheln, und andere, die zum Dienen da sind?

Und so müsste man aus moralphilosophischer Sicht, wenn man nun Gelegenheit hätte, sich mit Kant zu unterhalten, denselben darauf hinweisen, dass sein pädagogisches Behelfsargument nicht nur etwas dürftig ist, sondern die von ihm proklamierte Moral selbst nicht ernst genug nimmt. Denn besorgniserregend ist nicht nur die Verrohung, an die sich der Tierquäler gewöhnt; bereits der Tierkonsument, der ja selbst nicht aktiv Leid zufügt, gewöhnt sich daran, ohne stichhaltige Gründe Grenzen zu errichten, um seine Bequemlichkeit nicht zu erschüttern: Grenzen zwischen «uns» und «ihnen», Grenzen zwischen denen, die das Privileg geniessen, berücksichtigt zu werden, und jenen, die gleichgültig oder zumindest zweitrangig sind. Schon das läuft dem zivilisatorischen Projekt Gewaltverzicht und Moral zuwider.

Wir lernen, uns mit Schablonen und Ausweichmanövern zufriedenzugeben («Ist nur ein Tier»), wo wir eigentlich lernen sollten, dem ethischen Argument Raum zur Universalisierung zu geben: Was für unseren Wunsch gilt, am Leben zu bleiben, gilt ebenso für die uns verwandten Tiere. Wir lernen auch – ob auf Tierhaut-Sofas oder beim Grillieren –, über tote Körper hinwegzusehen und Lebewesen zu bloss materiellen Dingen zu degradieren. Wir lernen, einige Lebensbereiche auszugliedern aus dem Bereich moralischen Handelns und zu behaupten: «Ich darf essen, was ich will.»

Doch endet die Freiheit der rein privaten Entscheidung da, wo es um Dritte geht, die durch unser Tun in Mitleidenschaft gezogen werden. Kaufen, sexuell verkehren, essen – all dies sind zunächst Tätigkeiten, bei denen das bürgerliche Individuum frei ist. Doch ist für tierische Nahrungsmittel ebenso wie für Textilien aus Kinderarbeit und für Zwangsprostitution das Leid anderer Voraussetzung; und darum sind wir in diesen Fällen eben nicht «frei», zu konsumieren – solches Tun ist nicht mehr rein «privat».

Strenggenommen muss man sogar sagen: Die eigene Freiheit wird gar nicht dadurch beschnitten, dass wir den anderen ihre Rechte, ihr Leben, ihre Körper lassen. In anderen Fällen als beim Essen des Tiers ist uns das auch bereits zur Genüge klar: Wer würde sagen, dass seine Freiheit darunter leide, dass er nicht auf dem Markt Menschensklaven kaufen und mit der Peitsche auf seinen Acker treiben darf? Wer würde sagen, es beschneide die Freiheit eines Betrunkenen, auf dem Heimweg von der Kneipe nicht irgendeine Frau vergewaltigen zu dürfen? Damit ist nur die Zahl des moralisch Möglichen verringert – nicht aber die menschliche Freiheit.

Wir können nur gewinnen

Mit diesen Vergleichen sind wir wieder am Anfang angelangt: Darf man das, also die Rechte der Tiere mit denen von Menschensklaven, von sexuell missbrauchten Frauen, von hungernden Kindern vergleichen? Ja, man darf – und man sollte sogar! Genauso wenig, wie das Universum eine klare To-do-Liste in der Hinterhand hält, kennt es die absolute Unterscheidung zwischen Wohl und Wehe der Menschen hier und der Tiere dort. Wir sind Verwandte, spätestens seit Darwin wissen wir das. Doch sosehr wir auch über Darwins Zeitgenossen schmunzeln, die es empörend fanden zu hören, dass sie von einem Affen abstammen – moralisch gesehen tun wir immer noch so, als stehe der Mensch ganz vereinzelt da in dieser Welt. Diese Empörung «Man darf doch das Elend der Tiere nicht mit dem der Menschen vergleichen!» entspricht genau jener Empörung aus der Zeit der darwinschen Aufklärung. Aus ihr spricht der reine Hochmut.

Doch moralisches Handeln erfordert, Grenzen dort abzubauen, wo sie sich vernünftig nicht stützen lassen; vom Hochmut und von unverdienten Privilegien abzulassen. Genau wie bei den obigen Beispielen werden wir dann feststellen: Unsere Freiheit wird gar nicht beschnitten, wenn wir die Rechte der Tiere achten. Wir mögen ein paar Zutaten beim Kochen verlieren, doch als Menschen können wir dabei nur gewinnen. Hilal Sezgin ist Philosophin und lebt als Schriftstellerin und Publizistin mit einer Menge Schafe und sonstiger Tiere in der Lüneburger Heide. Kürzlich ist ihr Buch «Wieso? Weshalb? Vegan! Warum Tiere Rechte haben und Schnitzel schlecht für das Klima sind» (Verlag S. Fischer) erschienen.