Es hat lange gedauert, bis sich die Wissenschaften endlich der Tiere
angenommen haben und sie nicht bloß als programmierbare Automaten oder
als instinktgesteuerte Wesen ohne Sinn und Verstand wahrnehmen. Eine
neue Generation von Biologen, Philosophen, Historikern und Soziologen
entdeckt die facettenreiche Gedanken-, Sozial und Bedeutungswelt
nichtmenschlicher Lebewesen. Dieser Entwicklung widmet sich an der
Universität Utrecht dieser Tage die Konferenz »Minding Animals«.
Angekündigt sind unter anderem der Literaturnobelpreisträger John
Coetzee (Adelaide), der Verhaltensbiologe Marc Bekoff (Colorado), der
Ökologe Dale Jamieson (New York) und der kanadische Philosoph Will
Kymlicka (Kingston/Budapest).
Wir sprachen mit Kymlicka, einem der international bekanntesten
Theoretiker des Multikulturalismus.
DIE ZEIT: Herr Kymlicka, man kennt Sie als viel diskutierten Theoretiker
des Multikulturalismus . Jetzt haben Sie gemeinsam mit Ihrer Frau Sue
Donaldson Zoopolis vorgelegt, ein Buch über Tierrechte. Gehören Tiere
etwa auch zur multikulturellen Gesellschaft?
Will Kymlicka: Meine Frau Sue ist Schriftstellerin und seit langer Zeit
Veganerin. Sie wollte schon vor Jahren mit mir ein Buch über Tierrechte
schreiben. Ich habe mich lange gesträubt, aber sie hat mich überzeugt,
dass einige Entwicklungen im Feld des liberalen Multikulturalismus auch
für Tierrechte wichtig sind. Die Theorie multikultureller Bürgerrechte
eröffnet eine spannende Perspektive auf die Frage der Tierrechte.
ZEIT: Multikulturalismus und Tierrechte? Das klingt abenteuerlich.
Fangen wir mal bescheiden an: Wie begründet man politische Rechte für
Tiere?
Kymlicka: Tiere haben dasselbe Recht auf Leben und Freiheit wie wir
Menschen, denn auch für sie ist ihr Leben kostbar, so wie unser Leben
für uns kostbar ist. Tiere wollen leben und gedeihen. Für sie selbst
macht es einen Unterschied, wie sich ihr Leben gestaltet. Genau darin
liegt ja auch letztlich der Grund für die Menschenrechte. Es kommt nicht
darauf an, ob ich das Leben eines anderen wertschätze.
ZEIT: Worauf kommt es dann an?
Kymlicka: Es kommt darauf, dass der Betreffende selbst sein eigenes
Leben wertschätzt und die anderen das respektieren. Wir denken ja auch
nicht, dass klügere oder produktivere KULTUR 2 Menschen weiter gehende
Rechte haben, zum Beispiel nicht gefoltert oder eingesperrt zu werden.
Wir gewähren jedem Individuum dasselbe Lebensrecht, weil wir alle
dasselbe Schicksal teilen: Wir sind sterbliche Wesen, die an ihrem
kurzen Leben auf diesem Planeten hängen. In dieser Hinsicht sind Tiere
Lebewesen wie wir, sie sind ebenfalls verletzlich und bedürfen desselben
grundlegenden Schutzes.
ZEIT: Aber Sie gehen ja noch weiter. Sie fordern, dass Haustiere oder
domestizierte Tiere nicht nur Grundrechte , sondern auch Bürgerrechte
haben sollten.
Kymlicka: Ja. Wir wollen zeigen, dass domestizierte Tiere als volle
Mitglieder unserer Gesellschaft angesehen werden müssen. Wir Menschen
haben diese Tiere in unsere Gesellschaft verbracht und so gezüchtet,
dass sie von uns abhängig geworden sind; also können wir moralisch nicht
anders, als sie als vollwertige Mitglieder einer Gemeinschaft
anzuerkennen, die eben eine aus Menschen und Tieren gemischte
Gesellschaft ist. Das gilt sowohl für Haustiere wie Hunde und Katzen als
auch für sogenannte Nutztiere wie Schafe und Kühe. Und die beste Art,
Gesellschaftsmitglieder zu schützen, sind nun einmal Bürgerrechte.
Bürgerrechte für Tiere stellen klar: Sie gehören in unsere Gesellschaft,
sie sind vollwertige Mitglieder, und die Strukturen politischer
Entscheidungsfindung müssen ihren Interessen und Bedürfnissen Rechnung
tragen.
ZEIT: Bei Bürgerrechten denkt man zuerst ans Wahlrecht. Aber ein
Wahlrecht für Katzen und Hunde können Sie ja wohl nicht meinen?
Kymlicka: Nein, Wählen ist schließlich nur einer der vielen Mechanismen,
mit denen eine Gesellschaft sicherstellt, dass die Interessen aller
berücksichtigt werden. Im Falle von Tieren kämen unter anderem
Ombudsleute oder juristische Vertreter in Betracht.
ZEIT: Was etwa könnten solche juristischen Vertreter für die Tiere
fordern?
Kymlicka: Das kommt auf die Tierart an und auch darauf, welchen
Wohlstand eine Gesellschaft erreicht hat. Ganz generell umfassen
Bürgerrechte für Tiere das Recht auf eine angemessene Unterkunft, auf
Nahrungsmittel und medizinische Versorgung. Tiere können auch ihrerseits
zur Gesellschaft beitragen, indem sie nicht belastende Arbeiten
verrichten, uns Gesellschaft leisten oder indem wir ihre Produkte wie
Eier, Wolle und Dung nutzen. Selbstverständlich dürften wir solche
Leistungen erst unter gerechten Bedingungen einfordern, eben im Rahmen
einer Mitbürgerschaft; und davon sind wir angesichts unserer
ausbeuterischen Zustände derzeit Lichtjahre entfernt.
ZEIT: Was ist nun mit den Tieren, die sozusagen »keiner haben will«, die
aber trotzdem unter uns Menschen leben: Mäuse, Spatzen, Eichhörnchen in
der Stadt? Sie nennen diese Tiere »Grenzgänger«.
Kymlicka: Die Gruppe von Grenzgängern ist enorm groß, und sie wächst
immer weiter. Denn je mehr Raum die Menschen besiedeln, desto stärker
zwingen wir die Tiere auch, sich entweder mit uns zu arrangieren oder
eben zu sterben. Viele dieser Tiere haben sich enorm KULTUR 3 gut an uns
angepasst. Gleichwohl behalten die meisten Grenzgänger-Tiere eine
gewisse Scheu vor dem Menschen; sie leben zwar unter uns, entwickeln
aber keine vertrauensvollen Beziehungen mit uns, sie sind keine
Mitglieder unserer Gesellschaft. Wir können sie mit Stammgästen oder
ausländischen Gesellschaftmitgliedern vergleichen, die zwar einen
Aufenthaltsstatus besitzen, aber keine Staatsbürger werden wollen.
ZEIT: Wenn Mäuse und Ratten als »Stammgäste« auch Grundrechte haben: Was
können wir tun, um sie in Schach zu halten?
Kymlicka: Auch Mäuse und Ratten haben, wie alle anderen Menschen und
Tiere, ein grundlegendes Recht auf Leben. Außer in Notwehr dürfen wir
sie nicht töten. Tatsächlich schaffen wir Menschen viele Probleme
selbst: Wir füttern Tauben in der Stadt und lassen Reste von Tierfutter
achtlos herumliegen, sodass sich Ratten daran bedienen. Zum Glück sind
viele Gemeinden inzwischen aber kreativ geworden und haben vernünftige
Strategien für eine Koexistenz entwickelt. In Basel hat man Tauben an
bestimmte Übernachtungs- und Fütterungsplätze gewöhnt, wo man ihnen dann
die Eier entwenden kann. Wenn wir erst einmal aufhören, diese Tiere als
Wildtiere anzusehen, die einfach nur »fehl am Platz« sind, und wenn wir
stattdessen anfangen, uns Wege der Koexistenz zu überlegen, können wir
die Schönheit dieser Tiere und ihren Beitrag zum städtischen Leben auch
viel besser würdigen. Denken Sie nur an die Possen der Eichhörnchen im
Park. Denken Sie an den Gesang der Vögel und daran, wie sie uns die
Insekten vom Hals halten. Es geht ja nicht immer nur um Konflikte.
ZEIT: Sehen Sie hier eine weitere Parallele zum Multikulturalismus? Die
Vielfalt von Menschen verschiedener Herkunft kann anstrengend sein – und
sie kann eine Bereicherung darstellen.
Kymlicka: Vielfalt ist immer eine Herausforderung, aber sie ist eben
auch die Grundlage des Lebens. Isolierte Genpools sterben aus. Isolierte
Kulturen stagnieren und verkrusten. Eine Inspirationsquelle für unser
Buch Zoopolis , und auch titelgebend, war die Arbeit von Jennifer Wolch
und anderen Stadtökologen, die sich eine Wiederverzauberung menschlicher
Gesellschaften erhoffen, indem wir die Natur und die Tiere wieder zurück
in unser Leben lassen. Die Moderne hat eine starke Grenze zwischen
»Natur« und »Kultur« gezogen – demnach bewohnen die Menschen die
Kulturzone, die Tiere gehören irgendwoanders hin, in die Natur. Aber das
ist eine verzerrte Sicht auf die Dinge. Tiere waren schon immer in
unserer Nähe, wir haben nur gelernt, sie zu ignorieren.
ZEIT: Wenn man Ihr Buch liest, merkt man, dass Sie in der Lage sind,
Tiere sehr präzise wahrzunehmen und auf das Genaueste zu beobachten.
Kymlicka: Während wir an unserem Buch schrieben, haben meine Frau und
ich begonnen, unsere Umgebung mit neuen Augen zu betrachten. Es ist, als
ob man eine Sichtblende abnähme, und plötzlich sieht man das städtische
Leben in all seiner Buntheit und Vielfalt. Ich denke, dass wir Menschen
einen hohen Preis dafür zahlen, dass wir versucht haben, uns KULTUR 4 so
stark von der nichtmenschlichen Welt abzuschotten. Eine der positiven
Botschaften von Zoopolis ist, dass wir nicht erst in die Wildnis reisen
müssen, um eine Verbindung zu den Tieren wiederherzustellen. Wir müssen
eigentlich nur unsere Augen öffnen und die vielen Möglichkeiten
wahrnehmen, die unsere gemischte Gesellschaft von Menschen und Tieren
schon bereithält.
ZEIT: Ich muss zugeben, dass ich zwischen Faszination und Skepsis
schwanke. Alles, was Sie sagen, klingt ziemlich utopisch. Was wären
erste praktische Schritte?
Kymlicka: Es ist eigentlich egal, wo man anfängt – Hauptsache, man tut
es! Man kann aufhören, Tiere zu essen. Man kann aufhören, ihre Felle und
Häute als Kleidung zu tragen. Man kann seine Haustiere als Freunde und
Gleichgestellte betrachten anstatt als Zubehör. Man kann die
Grenzgänger-Tiere in der Nachbarschaft kennenlernen und überlegen, wie
ihr Leben ein wenig sicherer werden könnte. Man kann aufhören, Häuser zu
bauen, für die neue Straßen errichtet und Lebensräume platt gewalzt
werden müssen.
ZEIT: Glauben Sie an einen moralischen Fortschritt, auch in unserem
Verhältnis zu den Tieren?
Kymlicka: Theodore Parker, der große Kämpfer für die Abschaffung der
Sklaverei, sagte einmal: »Der Bogen des Universums ist lang, aber er
neigt sich der Gerechtigkeit zu.« Und der Bogen zur Gerechtigkeit
verläuft alles andere als harmonisch – denken wir nur an die Rückschläge
innerhalb der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Aber ich glaube, dass
die Menschheit eine Menge darüber gelernt hat, wie man kooperative,
gerechte, friedliche und produktive Gesellschaften errichten kann.
Vorwärtsentwicklungen sind enervierend langsam, und es dauert
Generationen, bis sie in den kulturellen Strukturen fest verankert sind.
Ständig drohen Rückschläge. Aber ich habe keinen Zweifel, dass
menschliche Gesellschaften sich eines Tages gerechter gegenüber Tieren
verhalten werden.
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