Josef H. Reichholf: Der Tanz um das goldene Kalb - Der Ökokolonialismus
Europas
Gegenwärtig werden
in Deutschland etwa 15,7 Millionen Rinder, 23,7 Millionen Schweine,
2,5 Millionen Schafe und 600 000 Pferde gehalten. Das sind 250 große
Säugetiere auf jedem Quadratkilometer landwirtschaftlich genutzter Fläche
- und damit mehr als zweieinhalbmal so viel wie in der Serengeti, der an
Wildtieren reichsten Region der Erde. Aber anders als der weit gehend
menschenleere Nationalpark im Herzen Afrikas wird Deutschland außerdem von
82 Millionen Menschen bevölkert. Damit hat jeder Quadratkilometer
Deutschlands eine Biomasse von 90 Tonnen zu tragen - eine ungeheure Zahl,
verglichen mit den 20 Tonnen der Serengeti.
Schon diese einfache Rechnung, behauptet der Münchner Zoologe und Ökologe
Josef Reichholf, ist Beweis genug, dass die Viehbestände in Deutschland
viel größer sind, als seine Böden ernähren und verkraften können. Und das
hat verheerende Auswirkungen auf den Naturhaushalt.
Bereits vor einiger Zeit hat Reichholf eine Entdeckung gemacht, die mit
den idyllischen Vorstellungen vieler Naturschützer schlecht zu vereinbaren
ist: Die weitaus meisten Tier- und Pflanzenarten gibt es gegenwärtig in
Deutschlands Großstädten, die wenigsten auf seinen Äckern und Weiden.
Mitten in Berlin sind heute mindestens 140 verschiedene Brutvogelarten zu
finden, darunter die seltenen Seeadler, Wanderfalken, Uhus und
Nachtigallen, und mehr Haubenlerchen als in ganz Bayern. In der Hauptstadt
haben sich etwa fünfzig frei lebende Säugetierarten angesiedelt - ein
Großteil der in Deutschland überhaupt vorkommenden Spezies. Während in
München nicht weniger als 350 nachtaktive Schmetterlingsarten leben, sind
es auf dem freien Ackerland nur noch 15 bis 20. Allein in der Innenstadt
von Nürnberg gibt es rund 1100 wild wachsende Pflanzenarten; in seinem
Umland, das dicht bewaldet und wenig bebaut ist, sind es nur noch halb so
viele.
Dass
die Städte mittlerweile zu Oasen der Artenvielfalt geworden sind, lässt
sich nach Reichholf leicht erklären: Dort blieben winzige Reste solcher
Lebensräume erhalten, die anderswo längst vernichtet wurden; die Tiere
sind vor der Verfolgung durch die Jäger relativ sicher; und die
hochgradige Bodenversiegelung bewahrt die Städte davor, von Düngemitteln
überschwemmt zu werden.
Denn
dass in Deutschland und Mitteleuropa die Artenvielfalt stetig abnimmt und
immer mehr Biotope verschwinden, hat laut Reichholf nicht etwa die
Großindustrie, sondern in erster Linie die Landwirtschaft zu verantworten.
Sie beseitigt oder vereinheitlich nicht nur sämtliche Landschaftsformen,
die ihr bei der Steigerung der Produktion im Weg stehen, und setzt
rücksichtslos Herbizide, Pestizide und Fungizide ein. Noch gravierender
sind die Schäden, die sie mit ihrem exzessiven Düngemitteleinsatz
anrichtet.
In
der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelangten im Durchschnitt 30 bis 50
Kilogramm Stickstoff pro Jahr auf jeden Hektar der deutschen Fluren. Etwa
die gleiche Menge wird heute allein von den Kraftfahrzeugen und
Heizkraftwerken freigesetzt, und sie belastet in hohem Maß die Wälder,
Trocken- und Magerrasen, Moore, Seen und Naturschutzgebiete. Zusätzlich
produziert inzwischen das Millionenheer der Schweine und Rinder derart
viel Gülle, dass Berge von Stickstoff-, Phosphor- und Kaliumdünger
anfallen, die nicht mehr abgebaut werden können.
Diese extreme Überdüngung, die inzwischen den Großteil der Böden und
Gewässer erfasst hat, zieht tief greifende Veränderungen nach sich. So
können sich einige wenige Pflanzenarten wie der Riesenbärenklau, der
Riesenknöterich und das Drüsige Springkraut, die eine Vorliebe für
nährstoffreiche Böden haben, auf Kosten der meisten anderen massenhaft
vermehren, und das hat wiederum weit reichende Auswirkungen auf die
Nahrungsgrundlage etlicher Tierarten.
Reichholf macht in diesem Zusammenhang auf ein paradox anmutendes Phänomen
aufmerksam: Dank immer aufwändigerer Kläranlagen gelangen kaum noch
menschliche Abwässer, industrielle Gifte und Schadstoffe in die deutschen
Bäche, Flüsse und Seen. Trotzdem gehen die Fischbestände kontinuierlich
zurück. Auch hieran, erklärt Reichholf, ist die Landwirtschaft nicht
unschuldig. Denn die Abwässer aus der Massenviehhaltung, die ungefiltert
in die Bäche und Flüsse eindringen, enthalten im Übermaß Substanzen,
welche die Algen gedeihen lassen, aber nur klägliche Reste der organischen
Bestandteile, von denen sich die Fische, Muscheln und Krebse ernähren.
Diese organischen Bestandteile lieferten früher die menschlichen Abwässer,
noch früher hauptsächlich die Auwälder. Aber auch die sind der
Landwirtschaft zum Opfer gefallen.
Das
gegenwärtige massenhafte Aussterben der Arten findet zwar nicht in Europa
statt, wird aber indirekt von Europa verursacht: Die Regenwälder
Amazoniens und Südostasiens werden gerodet, um Platz für Rinderfarmen und
für den Anbau der Futtermittel zu schaffen, auf welche die europäische
Landwirtschaft dringend angewiesen ist. Da die tropischen Regenwälder
hochempfindliche Ökosysteme sind, kann schon die Abholzung weniger Hektar
eine Art, die gerade dort ihre ökologische Nische gefunden hat,
vollständig ausrotten.
Reichholf schreibt außerdem über die Ursprünge und die Geschichte der
Rinderkultur, und er mutmaßt, dass die Rinderzucht den Anstoß zur
Erfindung der Sklaverei, des Patriarchalismus, der Polygamie und des
Harems gegeben haben könnte. Das sind anregende, aber waghalsige
Spekulationen.
Doch
ansonsten werden Reichholfs ketzerische Thesen durch eine Fülle
empirischer Befunde gestützt. Ein herausragender Beitrag zur politischen
Ökologie.
Dr.
Frank Ufen
freier Wissenschaftsjournalist, Marne |