Rezension aus „Spektrum der Wissenschaft“ Mai 2005:


Josef H. Reichholf: Der Tanz um das goldene Kalb - Der Ökokolonialismus Europas

 Gegenwärtig werden in Deutschland etwa 15,7 Millionen Rinder, 23,7 Millionen Schweine, 2,5 Millionen Schafe und 600 000 Pferde gehalten. Das sind 250 große Säugetiere auf jedem Quadratkilometer landwirtschaftlich genutzter Fläche - und damit mehr als zweieinhalbmal so viel wie in der Serengeti, der an Wildtieren reichsten Region der Erde. Aber anders als der weit gehend menschenleere Nationalpark im Herzen Afrikas wird Deutschland außerdem von 82 Millionen Menschen bevölkert. Damit hat jeder Quadratkilometer Deutschlands eine Biomasse von 90 Tonnen zu tragen - eine ungeheure Zahl, verglichen mit den 20 Tonnen der Serengeti.

Schon diese einfache Rechnung, behauptet der Münchner Zoologe und Ökologe Josef Reichholf, ist Beweis genug, dass die Viehbestände in Deutschland viel größer sind, als seine Böden ernähren und verkraften können. Und das hat verheerende Auswirkungen auf den Naturhaushalt.

Bereits vor einiger Zeit hat Reichholf eine Entdeckung gemacht, die mit den idyllischen Vorstellungen vieler Naturschützer schlecht zu vereinbaren ist: Die weitaus meisten Tier- und Pflanzenarten gibt es gegenwärtig in Deutschlands Großstädten, die wenigsten auf seinen Äckern und Weiden. Mitten in Berlin sind heute mindestens 140 verschiedene Brutvogelarten zu finden, darunter die seltenen Seeadler, Wanderfalken, Uhus und Nachtigallen, und mehr Haubenlerchen als in ganz Bayern. In der Hauptstadt haben sich etwa fünfzig frei lebende Säugetierarten angesiedelt - ein Großteil der in Deutschland überhaupt vorkommenden Spezies. Während in München nicht weniger als 350 nachtaktive Schmetterlingsarten leben, sind es auf dem freien Ackerland nur noch 15 bis 20. Allein in der Innenstadt von Nürnberg gibt es rund 1100 wild wachsende Pflanzenarten; in seinem Umland, das dicht bewaldet und wenig bebaut ist, sind es nur noch halb so viele.

Dass die Städte mittlerweile zu Oasen der Artenvielfalt geworden sind, lässt sich nach Reichholf leicht erklären: Dort blieben winzige Reste solcher Lebensräume erhalten, die anderswo längst vernichtet wurden; die Tiere sind vor der Verfolgung durch die Jäger relativ sicher; und die hochgradige Bodenversiegelung bewahrt die Städte davor, von Düngemitteln überschwemmt zu werden.

Denn dass in Deutschland und Mitteleuropa die Artenvielfalt stetig abnimmt und immer mehr Biotope verschwinden, hat laut Reichholf nicht etwa die Großindustrie, sondern in erster Linie die Landwirtschaft zu verantworten. Sie beseitigt oder vereinheitlich nicht nur sämtliche Landschaftsformen, die ihr bei der Steigerung der Produktion im Weg stehen, und setzt rücksichtslos Herbizide, Pestizide und Fungizide ein. Noch gravierender sind die Schäden, die sie mit ihrem exzessiven Düngemitteleinsatz anrichtet.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelangten im Durchschnitt 30 bis 50 Kilogramm Stickstoff pro Jahr auf jeden Hektar der deutschen Fluren. Etwa die gleiche Menge wird heute allein von den Kraftfahrzeugen und Heizkraftwerken freigesetzt, und sie belastet in hohem Maß die Wälder, Trocken- und Magerrasen, Moore, Seen und Naturschutzgebiete. Zusätzlich produziert inzwischen das Millionenheer der Schweine und Rinder derart viel Gülle, dass Berge von Stickstoff-, Phosphor- und Kaliumdünger anfallen, die nicht mehr abgebaut werden können.

Diese extreme Überdüngung, die inzwischen den Großteil der Böden und Gewässer erfasst hat, zieht tief greifende Veränderungen nach sich. So können sich einige wenige Pflanzenarten wie der Riesenbärenklau, der Riesenknöterich und das Drüsige Springkraut, die eine Vorliebe für nährstoffreiche Böden haben, auf Kosten der meisten anderen massenhaft vermehren, und das hat wiederum weit reichende Auswirkungen auf die Nahrungsgrundlage etlicher Tierarten.

Reichholf macht in diesem Zusammenhang auf ein paradox anmutendes Phänomen aufmerksam: Dank immer aufwändigerer Kläranlagen gelangen kaum noch menschliche Abwässer, industrielle Gifte und Schadstoffe in die deutschen Bäche, Flüsse und Seen. Trotzdem gehen die Fischbestände kontinuierlich zurück. Auch hieran, erklärt Reichholf, ist die Landwirtschaft nicht unschuldig. Denn die Abwässer aus der Massenviehhaltung, die ungefiltert in die Bäche und Flüsse eindringen, enthalten im Übermaß Substanzen, welche die Algen gedeihen lassen, aber nur klägliche Reste der organischen Bestandteile, von denen sich die Fische, Muscheln und Krebse ernähren. Diese organischen Bestandteile lieferten früher die menschlichen Abwässer, noch früher hauptsächlich die Auwälder. Aber auch die sind der Landwirtschaft zum Opfer gefallen.

Das gegenwärtige massenhafte Aussterben der Arten findet zwar nicht in Europa statt, wird aber indirekt von Europa verursacht: Die Regenwälder Amazoniens und Südostasiens werden gerodet, um Platz für Rinderfarmen und für den Anbau der Futtermittel zu schaffen, auf welche die europäische Landwirtschaft dringend angewiesen ist. Da die tropischen Regenwälder hochempfindliche Ökosysteme sind, kann schon die Abholzung weniger Hektar eine Art, die gerade dort ihre ökologische Nische gefunden hat, vollständig ausrotten.

Reichholf schreibt außerdem über die Ursprünge und die Geschichte der Rinderkultur, und er mutmaßt, dass die Rinderzucht den Anstoß zur Erfindung der Sklaverei, des Patriarchalismus, der Polygamie und des Harems gegeben haben könnte. Das sind anregende, aber waghalsige Spekulationen.

Doch ansonsten werden Reichholfs ketzerische Thesen durch eine Fülle empirischer Befunde gestützt. Ein herausragender Beitrag zur politischen Ökologie.

Dr. Frank Ufen

freier Wissenschaftsjournalist, Marne

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